Von Prof. Dr. Barbara Stammel
Mögen Sie Bärlauch?
Frisch aus dem Wald gesammelt, kurz gewaschen und dann zu einem Pesto verarbeitet, zu Bratkartoffeln oder auf die Spargelsuppe? Am Bärlauch scheiden sich bekanntlich die Geister: Die einen lieben ihn als Frühlingsboten aus feuchten Auwäldern, die anderen kann man damit jagen. Bärlauch-Blätter als kostenfreie Leistung naturnaher Auwälder – ein gutes Beispiel für die unterschiedliche Bedeutung von Bereitstellung, Nutzung und Wertschätzung von Ökosystemleistungen Auen.
Ich freue mich jedes Jahr aufs Neue auf das erste Bärlauchpesto, weiß aber auch: Spätestens nach der 20. Vegetationsaufnahme im Bärlauchwald reicht es mit dem „Duft“. Bärlauch nutzt die Zeit von März bis Mai, bevor das Kronendach geschlossen ist. Dieser Kraftakt gelingt nur bei idealen Standortbedingungen – regelmäßige Überschwemmungen und Nährstoffversorgung inklusive. Kein Wunder, dass er vor allem in naturnahen Auen mit dynamischer Hydrologie wächst.
Geschmacksache oder unterschiedliche Interessen
Wie beim Bärlauch gilt auch für Ökosystemleistungen: Nicht jeder misst ihnen denselben Wert bei. Für den Landwirt ist der fruchtbare Boden entscheidend, für die Kraftwerksbetreiberin das fließende Wasser, für die Kanufahrerin oder den Angler zugängliche Gewässer – während andere Leistungen, etwa die Rückhaltung von Nährstoffen oder die Kühlung des Lokalklimas, eher im Hintergrund stehen.
Naturnahe Flussauen – auch als multifunktionale Flussauen bezeichnet – gelten als Hotspots für Ökosystemleistungen. Manche dieser Leistungen – etwa die Hochwasserregulation oder der Kohlenstoffrückhalt – entstehen sogar ausschließlich in Auen. Ihre Bereitstellung ist eng an das Auenmanagement gekoppelt: Intensive Nutzung fördert meist versorgende Leistungen (z. B. Nahrungsmittelproduktion), schwächt jedoch oft die regulierenden Funktionen. Für kulturelle Leistungen ist dieser Zusammenhang nicht immer linear.
Um den größtmöglichen gesellschaftlichen Nutzen aus dem Ökosystem Aue zu ziehen, müssen Potenziale, Defizite und Zielkonflikte offen diskutiert werden. Bislang erfolgt die Bewirtschaftung von Flussauen jedoch überwiegend sektoral – z. B. für Hochwasserschutz oder Landwirtschaft –, was der Vielfalt an Interessen und gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht wird.
Bewertung als gemeinsame Sprache – und als Werkzeug im Auenmanagement
In verschiedenen Projekten wurden naturbasierte Lösungen getestet, die die Multifunktionalität von Auen fördern: von der Wiederanbindung eines Altwassers über extensive Weidenutzung bis hin zur Deichrückverlegung. Diese Maßnahmen stärken nicht nur die Biodiversität in Auen, sondern auch die Resilienz gegenüber Klimarisiken.
Das Forschungsprojekt RESI (River Ecosystem Service Index) konnte an Fallbeispielen der Nahe und der Nebel zeigen, wie sich mit der Bewertung einzelner Ökosystemleistungen Zielkonflikte transparent machen lassen. Auch schwer monetarisierbare Leistungen – wie Sedimentrückhalt oder Habitatbereitstellung – werden auf diese Weise vergleichbar.
Doch wer entscheidet, welche Leistungen im Vordergrund stehen sollen? Bisher geschieht dies oft opportunistisch: dort, wo Fördermittel oder verfügbare Flächen vorhanden sind. Wenn jedoch Ziele wie das EU-Wiederherstellungsgesetz, Biodiversitätsstrategien oder der Schutz vor Hochwasser ernst genommen werden sollen, braucht es eine neue Form der Zusammenarbeit – zwischen Sektoren, Verwaltungen und Interessen.
Co-Creation Umweltplanung: Viele Köche, besserer Brei?
Im EU-Projekt IDES (Improving water quality in the Danube system by ecosystem service based integrative management ) wurde in fünf Ländern mit verschiedenen Nutzungen und gesellschaftlichen Anforderungen getestet, wie sich lokale Auenräume gemeinsam entwickeln lassen. In Workshops wurden Ökosystemleistungen benannt, Defizite analysiert und Vorschläge für naturbasierte Maßnahmen entwickelt – im Dialog auf Augenhöhe.
Das Ergebnis: Stakeholder-Beteiligung im Naturschutz funktioniert – wenn sie ernst gemeint ist. Wissenschaft war dabei nur eine Perspektive von vielen. Die hohe Komplexität der Auen wurde nicht nur verstanden, sondern auch in konkrete Maßnahmen übersetzt. Co-Creation führte zu Lösungen, die für alle Beteiligten tragbar waren – auch wenn niemand die Idealvorstellung verwirklicht sah. Flussrenaturierung in Deutschland braucht genau solche Prozesse.
Auenmanagement: Nicht überall muss Bärlauch wachsen
Nicht jeder Auwald muss Bärlauch liefern – aber er kann. Entscheidend ist, dass wir regional wissen, welche Leistungen eine Aue erfüllen kann und welche nicht. Dafür braucht es großräumige Potenzial- und Defizitanalysen, die mit lokalem Wissen ergänzt werden. Werden diese Ebenen zusammengebracht, können Auenprojekte gezielt verortet und umgesetzt werden.
Im besten Fall entstehen dabei neue Wertschöpfungsketten für naturnahe Auen: von Ökotourismus bis zur Vermarktung von Bärlauchprodukten. Nicht alle möchten mit Bärlauch arbeiten – aber alle können von einem integrativen Auenmanagement profitieren, das auf naturbasierten Lösungen basiert.